Von Manfred Mohr
Manchmal komme auch ich ins Zweifeln und frage mich dann etwas bange, was bringt mir eigentlich diese ganze spirituelle Praxis, so für mein Leben und überhaupt? Macht das wirklich alles einen Sinn, so wie ich mir mein Leben gerade gestalte? (Gerade im Herbst und Winter sind wir wohl alle nicht gegen solche etwas besinnliche Gedanken gefeit.) Was mir dann wirklich hilft, sind kleine Rückblick in die Zeiten meines Lebens, die zehn, zwanzig oder sogar noch mehr Jahre zurückliegen. Wer war ich damals? Wie habe ich damals die Welt gesehen? Und was hat sich in mir seitdem verändert? Vielleicht nutzt auch du die kalte Jahreszeit, um in einer stillen Stunde in deinen alten Tagebüchern zu schmöckern und dir dieselbe Frage zu stellen.
Manchmal ist solch ein kleiner Blick in den Rückspiegel deines Lebens ganz sinnvoll. Ja, wir sollten schon zumeist voll Zuversicht nach vorn schauen und uns nicht allzuviel mit dem Damals beschäftigen. Aber mitunter hilft uns die Erinnerung an vergangene Tage durchaus auf die Sprünge, was wir heute im Vergleich zu gestern in unserem Leben schon alles erreicht haben. Dann erkennen wir mit einem Mal, wie viel positiver wir heute unser Leben zu gestalten und zu genießen verstehen. Und das liegt wohl vor allem daran, wie sehr wir unseren Blick auf unsere Welt immer bewusster und damit auch positiver ausrichten konnten.
Verstehen kann man das Leben nur rückwärts; leben muss man es aber vorwärts. (Sören Kierkegaard)
Denn unsere Sichtweise auf diese Welt ist offenbar sehr von uns selbst bestimmt. Was uns früher als immenses Problem erscheinen mochte, ist heute, mit ein wenig Lebenserfahrung, keine ganz so große Hürde mehr. Gelassenheit ist wohl eine der Errungenschaften, die das Lebensalter mit sich bringt. Es stellt sich hier aber grundsätzlich die Gretchenfrage: Wie wirklich ist denn unsere Wirklichkeit dann überhaupt? Ist die Wahrnehmung, wie ich die Welt sehe, nicht vor allem von mir selbst, von meiner Sichtweise auf das Ganze, abhängig?
Gleich kommt hier so manchem Leser bestimmt das berühmte Glas in den Sinn, das zur Hälfte gefüllt ist und somit entweder halbleer oder halbvoll zu sein scheint, je nach Gusto und Betrachtungsweise. Was ist dieses Glas aber nun wirklich? Kannst du dazu wirklich nur eine Meinung haben? Ist das Glas nicht beides, halbvoll und halbleer? Oder ist es keines von beidem, da es ja zwei gleichberechtigte Sichtweisen dazu gibt, und darum selbst der beste Richter hier keine juristische Entscheidung zu treffen vermag?
Eines ist aber sicher klar: Du entscheidest über deine Sichtweise. In jedem Moment. In jedem Augenblick aufs Neue. Die verschiedenen möglichen Blickwinkel auf eine Sache, die beim halbgefüllten Glas noch recht offensichtlich erscheinen mögen, verfolgen uns geradezu, werden von uns ständig vorgenommen und können sich mit der Zeit natürlich auch verschieben. Was ich gestern noch toll fand, macht mich vielleicht heute gar nicht mehr an. Trends ändern sich, Geschmäcker sind verschieden. So wie zwei verschiedene Menschen ganz unterschiedliche Vor- und Abneigungen haben können, so ändert sich auch meine eigene spezielle Vorliebe im Laufe der Zeit. Und das ist gut so. Denn hierin versteckt sich die Möglichkeit unseres persönlichen Wachstums. Ich möchte sogar, hierin liegt das Geheimnis des eigenen Glücks: Wir können unsere Sichtweise auf diese Welt verbessern und bewusster gestalten.
Erst die Erinnerung muss uns offenbaren
die Gnade, die das Schicksal uns verlieh:
Wir wissen stets nur, dass wir glücklich waren,
dass wir glücklich sind, wissen wir nie. (Goethe)
Auch wenn ich hier unserem großen Dichter selbstverständlich recht geben möchte, so ist doch anzumerken, wie sehr sich unsere Befindlichkeit zum Besseren verändert kann, wenn es uns gelingt, unsere subjektive Sichtweise vom halbleeren zum halbvollen Glas hin verändern zu können. Ja, wir können lernen, das Schöne mehr zu beachten. Ja, es ist möglich, für das Gute in unserem Leben mehr und mehr dankbar zu sein. Ja, wir können bewusst einen anderen Blickwinkel einnehmen und uns vermehrt dem Licht zuwenden, anstatt wie hypnotisiert auf den Schatten zu starren. Es braucht Training, OK. Es ist nicht immer einfach, zugegeben. Aber es lohnt sich. Soviel ist sicher. Denn:
Das Glück liegt nicht in den Dingen,
sondern in der Art und Weise,
wie sie zu unseren Augen,
zu unseren Herzen dringen. (Jeremias Gotthelf)
Unser persönliches Glück wird von unserer Fähigkeit bestimmt, das Gute zu erblicken. Vielleicht ist unser ganzes Leben darauf ausgelegt, diese „Anleitung zum Glück“ zu entdecken und umzusetzen, wer weiß? Früher dachte ich, manche Menschen haben einfach mehr Glück, da sie es einfacher haben in ihrem Leben. Und ich war wohl sogar ein Stück weit neidisch auf diese scheinbaren „Glückspilze“. Mittlerweile habe ich viele Menschen gesprochen und ihre besonderen Lebenslinien dabei kennenlernen dürfen. Heute würde ich darum eher sagen, Glück hat eher mit der Fähigkeit zu tun, das Gute auch in schwierigen Lebensumständen entdecken zu können. Glück wird dann eher eine innere Einstellung, die aus uns selbst heraus entspringt und weniger von den äußeren Bedingungen abhängig ist. Buddha hat wohl genau deshalb formuliert:
Es gibt keinen Weg zum Glück. Glück ist der Weg.
Jeder neue Augenblick verlangt von mir eine Entscheidung: Wie möchte ich ihn sehen? Aus welchem Blickwinkel möchte ich darauf schauen? Wenn ich auf die eingangs gestellte Frage zurückkomme, was eine spirituelle Praxis denn überhaupt bringen mag, dann kann ich heute sagen, nun sehe ich mehr lachende Menschen als früher. Jetzt strahlt öfter die Sonne am Himmel und die Blumen am Wegesrand scheinen bunter und zahlreicher geworden zu sein. Der Augenblick hat einen neuen Zauber gewonnen.
Schon die ältesten uns überlieferten Schriften, die indischen Veden, kennen diesen Vorgang und formulieren es folgendermaßen:
„Tat tvam asi“. Was übersetzt bedeutet: „Das, was ich wahrzunehmen glaube, und das, was ich zu sein glaube, ist ungeteilt.“
Ich sehe immer mit dem bestimmten Bewusstsein in die Welt, das genau mir entspricht. Ich sehe die Welt von der Ebene meines speziellen Bewusstseins aus. Die gute Nachricht lautet darum: Wenn ich bewusster werde, sehe ich auch die Welt bewusster und schöner.
Darum sehe ich nicht nur den Augenblick, sondern interpretiere dabei immer den aktuellen Moment: Ist er gut oder schlecht? Und diese Interpretation hängt von der Art und Weise ab, wie genau mein Auge hinzuschauen versteht. Mein Sinnesorgan kann lernen, liebevoller und gütiger hinzuschauen. Es ist dann vergleichbar mit einem Mikroskop, das schärfer eingestellt werden kann und dann mehr Details erblickt, die vorher noch unsichtbar waren.
Spirituelle Praxis schärft darum sozusagen unseren Blick in die Tiefe der Dinge. Es ist eine Kunst, den Augenblick zu sehen und wirklich wahrzunehmen. Die dahinter verborgene Schönheit tritt dann hervor. Sie wartet nur auf uns. Es ist unsere eigene.
1 Gedanke zu „Vom Zauber des Augenblicks (für das Engelmagazin 2/2022)“
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