Artikel für das Engelmagazin 1 / 26 „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…“

Von Manfred Mohr

Unser Leben wird geprägt vom immer wiederkehrenden Ablauf der Jahreszeiten, die uns von Kindesbeinen an begleiten. Dabei ist jeder Frühling besonders und anders als der vorhergegangene, und kein Herbst gleicht wirklich einem früheren bis ins Detail. So hüllen uns beim Älterwerden die Erinnerungen an die vergangenen Sommer und Winter ein wie einen Baum seine Jahresringe, die ihn mit jedem Jahr nur stärker und widerstandfähiger machen. So meinte es wohl auch Rainer Maria Rilke, als er dichtete:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge zieh‘n.

Wenn wir das Meer am Strand beobachten, dann kommt die Welle, fließt über den Sand und zieht sich gleich darauf wieder zurück. Nur um dann erneut ihr Wasser auf den Sand zu ergießen. Wieder und wieder. Beim längeren meditativen Betrachten der Wellen kommt es dann vor, das Kommen und Gehen des Wassers mit dem Atmen zu vergleichen. So wie unser Brustkorb es Zeit unseres Lebens tut, so hebt und senkt sich auch die Welle, als sei auch das Meer ein lebendiger Organismus.

So hat alles in unserem Leben eine bestimmte Abfolge. Die Drehung der Erde um die Sonne schenkt uns die wechselnden Jahreszeiten. Das Kreisen des Mondes um die Erde bereichert uns mit Ebbe und Flut. Unser Atem wie unser Herzschlag besitzen eine eigene Frequenz und auch unser Biorhythmus ist nur ein Ausdruck unserer wechselnden Stimmung und Tatkraft. Es scheint fast so, als würde alles, was in und um uns fortwährend geschieht, einer schwingenden Trommel gleichen, auf der das Leben seine unermüdliche Musik erklingen lässt. Alles passiert in einer göttlichen Ordnung, die Schöpferkraft besitzt.

Wenn wir nun zum Jahreswechsel innehalten, um auf die vergangenen Monate zurückzublicken, so sollten wir es voller Dankbarkeit tun. Im Auf und Ab des Geschehens haben wir die mannigfaltigsten Erfahrungen sammeln dürfen, die auch unseren Lebensbaum mit neuen Ringen ausgestattet hat. Sicher, vieles, das wir erleben durften, war fehlerhaft, manches lief nicht so ab, wie wir es uns erträumt hatten. Und doch, wir durften unsere gottgegebene menschliche Freiheit dazu nutzen, unsere Schritte nach dem eigenen Gusto so setzen, wie genau wir es wollten. Wir durften handeln in einem großen Rahmen von Möglichkeiten, die es uns sogar erlauben, es beim nächsten Versuch, vielleicht schon im nächsten Jahr, besser machen zu können. Darum sagt wohl der Volksmund:

Das erste Haus baust du für einen Feind. Das zweite für einen Freund. Und erst das dritte für dich selbst.

Erinnere dich doch einen Augenblick lang an die Zeit, als du noch ein Kind warst. Wie hast du Laufen gelernt, wie das Schreiben? Jede unserer Fähigkeiten, die wir heute unser eigen nennen, haben wir durch solch einen Prozess von „Versuch und Irrtum“ erworben, dem im Englischen sprichwörtlichen „try and error“. Um eine besondere Fähigkeit zu erwerben, haben wir sie uns bei Vater, Mutter oder vielleicht einem größeren Geschwisterkind abgeschaut, haben sie imitiert, nur um dann erst, durch den Versuch, es ihnen gleichzutun, zu entdecken, wie wir dies auf unsere ureigenste Weise selbst tun können. Heute darf jeder von uns zur Belohnung seinen speziellen großen Werkzeugkasten von Fähigkeiten mit sich führen, der uns auf allen Baustellen unseres Lebens zur Seite steht. Das Einüben, Fehlermachen und aus den eigenen Mängeln lernen war dabei unumgänglich, ja sogar notwendig.

Das ganze Leben ist ein Kompromiss.

Mit den Jahresringen, die wir mit dem Älterwerden am Baum unseres Lebens ansammeln, beginnt bei diesem Thema eine Erkenntnis in uns zu reifen, dass auch unser Schöpfer eine Welt erschaffen hat, die weit davon entfernt ist, vollkommen und fehlerfrei zu sein. Im kreativen Spiel seiner Kräfte darf es wohl auch gar nicht anders sein. Es scheint fast so, als würde jeder Frühling ausprobieren wollen, wie er anders und völlig neu auch noch verlaufen könnte. Kein Jahr ist genau wie das vorhergehende, nur um zu testen, welche anderen Möglichkeiten es für seinem Ablauf auch noch geben könnte. Wo bliebe denn sonst der kreative Moment, das Neue, wenn jedes Jahr genauso wäre wie das letzte, wenn jeder Frühling genau seinem Vorgänger gleichen würde? Wo bliebe da der Spaß, etwas Neues zu gestalten, den jeder Künstler nur all zugut kennt? Vielleicht ist daher die ganze Welt nichts anderes als ein göttliches Kunstwerk, dessen Schöpfer möchte, dass es im ewigen Lauf der Zeit niemals genau gleich ausschauen darf.

Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über das gleiche Thema malen. (Pablo Picasso)

Und ebenso ist ein jeder von uns ein eigenes kleines Kunstwerk im eigenen Mikrokosmos. Im ganzheitlichen Betrachten spiegeln auch wir nur diese inneren Prinzipien des Universums wider und probieren uns unablässig aus in unseren Möglichkeiten und bei jedem Versuch, ein Problem zu lösen, das sich uns stellt. Jeder von uns findet dabei seine eigenen, neuen Lösungen, die unsere Besonderheit ausmacht. Wir bereichern dabei das Universum und fügen ihm einen neuen, speziellen Aspekt hinzu, über den sich der Schöpfer sicherlich unermesslich freut. Denn er denkt dabei: „Jetzt schau mal einer an, auf welch kreative neue Weise sich dieser Mensch mit dieser Herausforderung auseinandergesetzt hat. Chapeau!“

Darum dürfen wir sicher sein, der himmlische Dirigent, der den Taktstock über unsere Welt schwingt, er schaut mit viel Wohlwollen auf unsere Fehler und die zahlreichen kreativen Versuche, gerade trotz unserer Unvollkommenheiten neue Lösungen und Wege für uns zu eröffnen. Warum sollten also wir selbst überkritisch mit unseren persönlichen Mängeln und Unzulänglichkeiten umgehen? Fügen wir doch ständig auf diese Weise dem kosmischen Brilliant einen neuen Schliff hinzu, der seinem Licht eine neue, bisher unbekannte Färbung schenken möchte.

Natürlich habe ich Ecken und Kanten. Diamant sind ja auch nicht rund.

Zum Jahreswechsel sollten wir uns darum beim Rückblick auf das Jahr in Dankbarkeit üben, für die Herausforderungen und die damit verbundenen neuen Fähigkeiten, die uns das vergangene Jahr geschenkt hat. Blicken wir bei unserer Inventur mit den liebenden Blicken einer Mutter auf unsere Fehler, die wir gemacht haben, in der festen Gewissheit, es in Zukunft anders und besser machen zu können. Wir haben etwas dabei gelernt. Sicherlich, wir sind weit entfernt davon, perfekt zu sein und wir werden es höchstwahrscheinlich auch nicht mehr werden. Aber vielleicht geht es gar nicht darum, perfekt zu sein, sondern viel mehr darum, die Freude am kosmischen Spiel zu bewahren. Die Freude, die sich in den strahlenden Augen eines Kindes wiederfindet, das seine Bauklötze in immer neuer Weise zusammensetzt und wieder auseinandernimmt. Immer und immer wieder. Unser Schöpfer jedenfalls scheint einen himmlischen Spaß daran zu haben. Spielst du mit? Das neue Jahr bietet dir sicherlich eine spannende Gelegenheit dazu…