Für das Magazin raum&zeit: Das Wunder der Selbstliebe

Wenn der Wind der Veränderung weht, fühlt sich so mancher oft wie das sprichwörtliche Blatt im Wind, das von den Stürmen des Lebens hin- und hergerissen wird. Händeringend suchen wir dann nach Halt und Orientierung, die vor allem außen, in der gerade so betriebsamen Welt, gefunden werden möchte. Diese äußere Suche führt uns jedoch immer weiter fort von uns selbst und damit immer weiter weg von dem Ort, wo eine Lösung tatsächlich gefunden werden könnte – aus unserer eigenen Mitte. Bei unserer ständigen Suche entfernen wir uns zu leicht immer weiter von uns selbst und verlieren damit unsere eigentliche Basis, die seelische Heimat in uns selbst. Selbstliebe beginnt darum ganz einfach damit, unseren stetig suchenden Blick wieder einmal nach innen, auf uns selbst, zu richten.

Wer nach außen schaut, träumt. Wer nach innen schaut, erwacht. (Carl Gustav Jung)

Diese Innenschau ist dabei tatsächlich kinderleicht, niemand muss dazu wirklich etwas neu erlernen. Eher ist sie als eine Art Erinnerung zu verstehen, wie wir alle als Kinder gewesen sind und was wir alle damals konnten und sogar ständig praktizierten – das Fühlen. Carl Gustav Jung erklärt dies genauer, indem er für das Fühlen den treffenderen Begriff Empfindung heranzieht. Denn dieser entspringt aus dem Althochdeutschen und bedeutet ursprünglich treffender „etwas in dir finden“. Eine Empfindung, die wir wahrnehmen, erlaubt uns, etwas in uns zu entdecken, was eigentlich immer in uns vorhanden ist und nur darauf wartet, von uns endlich gesehen und ernst genommen zu werden – ein Gefühl für uns und damit für unser Bedürfnis, das wir in genau diesem Moment verspüren. Und erst dann, wenn dieses Bedürfnis von uns wahrgenommen worden ist, können wir es auch mit dem versorgen, was wir im Moment am meisten brauchen. Dies beginnt selbstverständlich bei unseren Grundbedürfnissen wie Hunger, Durst, Ruhe und Schlaf. Sie bilden sozusagen das kleine Einmaleins des Fühlens.

Schritt 1 zur Selbstliebe: Die innere Kommunikation wiederentdecken

Mit ein wenig Übung lernen wir allerdings rasch, den Blick immer häufiger auf unsere Empfindungen zu richten und dabei unserer inneren Stimme zu lauschen. Dann zeigen sich auch Verlangen, die in der Pyramide unserer Bedürfnisse weiter oben angesiedelt sind, wie etwa der Wunsch nach sozialen Kontakten oder neuem Wissen. Gefühle wieder mehr zu beachten ist darum bereits der erste und vielleicht wichtigste Schritt zu mehr Selbstliebe.  Jeder kann jetzt und heute damit beginnen, sich immer wieder im Tagesverlauf die Frage zu stellen: „Wie fühle ich mich gerade?“ oder „Wie fühlt sich das an?“ Und die Antwort, die sich dann zeigt und spürbar ist, wird dann zielsicher zeigen, was uns gerade am meisten fehlt und was wir im Moment am meisten brauchen. Meine Empfindung zeigt mir auf einfache Weise mein Bedürfnis. Dann erst kann ich mich wirklich um mich kümmern und dieses Bedürfnis stillen. Das ist der erste Basisbaustein zur Selbstliebe.

Umgekehrt wird die Wichtigkeit des Fühlens noch deutlicher, wenn wir erkennen, Stress und Hektik beginnen genau dann, wenn ich meine Bedürfnisse übersehe und stur nur noch meiner selbstauferlegten Agenda folge, die ich mir für diesen und jeden weiteren Tag selbst auferlegt habe. Dann findet meine Grundversorgung körperlich, geistig und seelisch nicht mehr statt und ich hetze energetisch nur noch auf Sparflamme durch meine Aufgaben, bis auch mein inneres Notstromaggregat irgendwann völlig aufgebraucht ist. Der simple Satz „Wie fühlt sich das an?“ schützt daher auf einfache Weise vor Stress, da ich dabei lerne, meinen Bedürfnissen besser zuzuhören und sie zu achten.

Schritt 2 zur Selbstliebe: Respektvoll Grenzen wahren

Eng mit der neu entdeckten Achtsamkeit, die wir unseren Gefühlen schenken, ist auch der zweite Schritt zu mehr Selbstliebe verbunden: Lerne, „Nein“ zu sagen. Wenn ich beginne, mich mehr zu spüren, dann kommt es im öfter auch einmal vor, dass ich authentisch werde und mich anderen Menschen gegenüber stärker abgrenze. Denn, sind wir einmal ehrlich, dann sagen wir doch viel zu oft „Ja“ zu anderen, vielleicht einfach, um lieb und nett zu erscheinen. Dann sagen wir gern etwas zu schnell und reflexartig „Ja“, werden uns aber leider erst später über die damit verbundenen Konsequenzen klar. Dann überfordern wir uns in der Folge manchmal selbst, nur, um ein gegebenes Versprechen zu halten. Wenn ich mich mehr spüren lerne, dann fühle ich in die mit einem „Ja“ verbundene zukünftige Situation hinein und registriere, wie es mir damit gehen würde. Fühle ich mich dabei dann nicht gut, wird ein „Nein“ nur folgerichtig sein.

Ganz oft zeigt sich ein „Ja“ zu mir in einem „Nein“ zu dir.

In diesem Zusammenhang war auch das Verhalten meiner Schwiegermutter im Umgang mit meinen Kindern sehr erhellend für mich. Als meine Zwillinge etwa 5 Jahre alt waren, kam es häufiger zu Besuchen im Haus dieser Oma und die dort herrschende Ordnung wurde mit zahlreichen Abgrenzungen umgesetzt: „Nein, wasch dir zuerst die Hände“, „Nein, lass das bitte liegen“, oder „Nein, klettere da besser nicht hinauf“. Überrascht stellte ich dabei fest, meine Kinder fanden diese Vorgaben richtig toll, sie liebten ihre Oma regelrecht dafür. Offenbar lieben Kinder klare Regeln, oder, um es genauer zu sagen, respektierten meine Kinder die Vorgaben der Oma gern, die klar und freundlich artikulieren konnte, was genau sie in ihrem Haus wollte und was nicht. Oma verschaffte sich durch ihre Vorgaben auf liebevolle Art Respekt, indem sie klare Grenzen setzte. Gibt es eine bessere Definition für Selbstliebe?

„Nein“ zu sagen bedeutet, mir auf freundliche Weise Respekt zu verschaffen. Im Grunde spüre ich meine inneren Bedürfnisse und handle dementsprechend, respektiere also zuerst einmal mich selbst. Wie oft habe ich aber stattdessen früher viel zu oft „Ja“ gesagt und dabei meine Bedürfnisse nicht gesehen und daher auch nicht respektiert? Mit dieser Erfahrung im Rücken gelingt das Abgrenzen schon viel besser, aber gern gebe ich dir hier noch einen Tipp dazu mit auf den Weg.

Das nächste Mal, wenn beispielsweise ein Kollege an der Arbeit zu dir kommt und dich in ein endloses Gespräch verwickeln möchte, das du gerade gar nicht führen möchtest, dann verschaff dir erst einmal Raum. Überlege dir schon jetzt eine Floskel, mit der du den Redefluss des anderen stoppen kannst, etwa „“Moment einmal, tut mir leid, ich habe gleich einen dringenden Termin, den ich noch vorbereiten möchte“. Oder wenn ein Bekannter dich bitten sollte, ihm am nächsten Wochenende beim Umzug zu helfen, dann verschlucke doch einfach mal das reflexartige „Ja“ und benutzte die Floskel „Da muss ich zuerst meine Frau / meinen Mann fragen, da hatten wir glaube ich bereits etwas vor. Ich melde mich bald“. Jetzt hast du die notwendige Zeit gewonnen, in Ruhe hinein zu spüren und dementsprechend dann eine für dich passende Antwort zu finden. Und sei beruhigt, je mehr du diese Taktik übst und Erfahrung dabei sammeln kannst, umso leichter wird dir eine Antwort fallen und bald brauchst du dann kaum noch Floskeln oder Ausreden, um dich abzugrenzen.

Ein Nebeneffekt sollte an dieser Stelle jedoch noch angesprochen werden, der mit Sicherheit einsetzt, sobald du damit beginnst, mehr Grenzen zu setzen. Dein soziales Umfeld wird sich zwangsläufig verändern. Denn im Moment bist du von Menschen umgeben, die eine bestimmte Verhaltensweise von dir kennen und bereits erwarten. Änderst du nun dein Handeln, da du mehr „Nein“ zu ihnen sagst, wird das manchen weniger gefallen. Sie werden sich beschweren und dir auf vielfältige Weise Ärger machen. Es wird sicherlich dazu kommen, dass du einige dieser Menschen deines näheren Umfeldes darum verlierst. Denn du hast dich verändert und manche alte Bekannte passen dann einfach nicht mehr zu dir. Diese äußere Veränderung ist daher nur zwangsläufig. Sei dir sicher, es werden andere, neue Bekannte zu dir finden, die dir dann mehr und besser entsprechen.

Es wird dir dann auch manchmal passieren, dass ein Freund dir sagt: „Du bist aber egoistisch geworden. Früher hättest du sicher „Ja“ gesagt und mir geholfen.“ Zunächst einmal, gestiegene Selbstliebe bedeutet nun sicher nicht, dem Freund gar nicht mehr zu helfen. Wenn es heute nicht bei mir passt, dann vielleicht schon morgen. Vielleicht ist es ja auch umgekehrt egoistisch gedacht von diesem Freund, mir vorschreiben zu wollen, wann genau ich ihm zu helfen habe. „Was du vom anderen sagst, bist du selber“, haben meine Kinder deshalb schon im Sandkasten gelernt. Auf jeden Fall würde ich wachsende Selbstliebe als eine Art von „gesunden“ Egoismus umschreiben, die mir und meiner Persönlichkeit mehr gerecht wird und meine Bedürfnisse besser respektiert.

Es gibt jedoch eine schöne Unterscheidung zwischen einem Egoisten und einem Menschen in Selbstliebe. Ein Egoist will immer nur von allem noch mehr und hat doch nie genug. Bildlich gesprochen würde ich ihn als Fass ohne Boden beschreiben, der im Gefühl ständig zu wenig hat und der im Mangelbewusstsein lebt. Wäre dieser Mensch ein Brunnen, so wäre kaum noch Wasser vorhanden, er wäre nahe daran, zu versiegen. Jemand, der schon häufig Selbstliebe praktiziert, hat stattdessen gelernt, sich selbst zu versorgen, mit allem, was er benötigt. Er hat von allem genug, sein Gefühl ist darum oftmals in der Fülle. Sein Brunnen ist daher nicht nur voll, sondern läuft sogar über den Rand und bewässert dabei wie von selbst auch seine nähere Umwelt.

Dieses Bild hat viel von einem magischen Füllhorn, das nie versiegt und nie aufhört zu sprudeln. Die Liebe, die ich mir selbst gebe, versorgt mich so gut mit allem, was ich brauche, dass meine Bereitschaft, sie an andere abzugeben, ständig wächst. Die Liebe in uns möchte sich zeigen und verströmen. Die Liebe, die ich mir selbst gebe, fließt wie automatisch auch in meine Umwelt. Meister Eckhard kannte dieses Phänomen bereits im Mittelalter und fasste es in die zauberhaften Worte:

Alle Liebe dieser Welt ist auf Selbstliebe begründet.

Die Liebe, die wir Zeit unseres Lebens suchen und die wir von außen erhalten möchten, sie entstammt der Liebe zu uns selbst, die wir praktizieren. Offenbar ist Liebe nicht an die uns bekannten materiellen Grenzen gebunden und wird auch den Menschen unserer Umwelt zuteil. Grund genug, uns nun der dritten Übung zu mehr Selbstliebe zu widmen.

Schritt 3 zur Selbstliebe: Folge deiner Freude

Mach dir eine Liste von all den Dingen, die du wirklich gerne tust. Womit verbringst du am liebsten deine Zeit? Gern kannst du dich dabei an deine Kindheit erinnern. Was hast du damals besonders gern gemacht? Am besten, schreib dir diese Dinge einfach intuitiv auf einen Zettel oder in dein Tagebuch, ohne länger darüber nachzudenken. Folge deiner Intuition dabei, 20 Tätigkeiten sollten es schon sein. Nimm dir Zeit für diese Übung, ein Abend nach der Arbeit wäre ideal. Wenn du schließlich mit dieser Auflistung fertig bist, schau sie dir genauer an und frage dich: Wann habe ich diese spezielle Sache eigentlich das letzte Mal gemacht? Gestern, letzte Woche oder letzten Monat? Schreib es dir wieder auf, am besten notiere es dir hinter jede notierte Tätigkeit der Liste. Was fällt dir dabei auf?

Diese Übung schenkt dir nebenbei gesagt einen sehr einfachen Einblick, wie es um deine Selbstliebe bestellt ist. Denn Menschen, die sich schon häufiger mit der Selbstliebe beschäftigen, erlauben sich mehr und mehr genau diese Dinge auf ihrer Freudeliste und es gelingt ihnen sogar, sie in ihren normalen Tagesablauf immer wieder einzubauen. Damit auch du deiner Freude mehr folgen kannst, gibt es darum die sogenannte „Verabredung mit dir selbst“. Schreibe dir dazu doch ganz einfach in deinen Kalender einmal in der Woche oder so oft du es möchtest einen Termin hinein, den du ganz allein für dich reservierst. Hier kannst du dann eine Stunde oder länger eines dieser Dinge wirklich tun, die auf deine Liste stehen. Schon bald wirst du dann bemerken, wie gut dir das tut. Deine Selbstliebe wird es dir danken. Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es.